Sternstunde im Rüsselsheimer Stadttheater

Donnerstag, 27. Februar 2014

RÜSSELSHEIM - Hoppla! Wer hat denn da sein glücklich kuratierendes Händchen über das Stadttheater gehalten? Am Montag erlebte das Haus einen geradezu perfekten Abend. Und der war absehbar: Denn das Berliner „Renaissance Theater“ bescherte der Rüsselsheimer Spielstätte schon früher mit dem „Krawattenclub“ (Hauptrolle: David Bennent) und der Komödie „Alte Freunde“ (Hauptrolle: Rufus Beck) seltene Sternstunden. Schon die „Alten Freunde“ waren von der Niederländerin Maria Goos verfasst worden, die nun wieder als Verfasserin von „Der letzte Vorhang“ zu nennen ist.

Vollblut-Schauspieler
Dazu kommt: In seiner schwersten Stunde seit 45 Jahren durfte die von Schließung bedrohte Spielstätte einen im doppelten Sinne "süffigen" Eindruck davon vermitteln, wie sich "Theater" anfühlt und was es bedeutet. Zum einen standen mit Suzanne von Borsody und Guntbert Warns Vollblut-Schauspieler auf der Bühne, deren Handwerk auch aus einer gehörigen Portion Körperlichkeit besteht. Zum anderen wird in diesem Stück ungeheuer viel getrunken...

"Der letzte Vorhang" beschreibt die Begegnung zweier Theaterschauspieler, ein Mann und eine Frau, die sich nach zehn Jahren wieder treffen, um eine vom Scheitern bedrohte Produktion zu retten. Er bestimmt die Lage, dabei ist er, dem Alkohol zugetan, der Labilere der beiden. Er ist auch Kern des Problems, denn Jahre der berufsbedingten Selbstaufgabe und des professionellen Selbstbetruges haben ihre Spuren hinterlassen. Seine Partnerin hat sich unterdessen in die spießbürgerliche Sicherheit einer Ehe begeben. Doch in ihrem Inneren brodelt weiterhin die Sehnsucht nach einem bohemehaften Leben und lässt sich von der Chance auf einen revoltierenden Ausbruch locken.

Diese relativ simple Geschichte breitet sich auf grandiosem Boden aus. Denn Regisseur Antoine Uitdehaag lässt seine Schauspieler tun, was sie am besten können: Spielen. Der ihren Erinnerungen zugrunde liegende Wechsel der Zeiten wird in der Aneinanderreihung vieler kleiner Schlüsselszenen, die sich rund um das "Bühnenbild" eines schweren Ledersofas entfalten, spielerisch verdichtet. Hier können die Darsteller ihre ganze Klasse zeigen. Denn unterschiedliche Zeiten beschreiben unterschiedliche Verfassungen der beiden Hauptpersonen. Nichts ist so, wie es eben gerade noch war: Dieser Bühnen-Zeitraffer verlangt von seinen Protagonisten einen ständigen Wechsel der Stimmungen ab. Dies verlangt aber auch vom Zuschauer ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit. Und es war das I-Tüpfelchen auf diesem gelungenen Theaterabend, dass sich das nahezu ausverkaufte Rüsselsheimer Theater wunderbar auf die Vielschichtigkeit dieser Inszenierung einlassen konnte.

Letztlich entwickelten Suzanne von Borsody und Guntbert Warns das Lebensgefühl des Künstlers als leidenschaftlicher Außenseiter, in dem sich die alltägliche Tristesse des Daseins zum dramatischen Ausdruck steigert. Diese Bühnenkünstler leiden stellvertretend für alle zurückgenommenen Vernunftmenschen im Parkett - auch dies ist ein Aspekt, den es zu bedenken gilt, wenn Politiker über die Theater-Schließung nachdenken.

Das Rüsselsheimer Publikum verstand sehr wohl, was es da miterlebte. Und die Sensiblen im Saal empfanden es wohl als Geschenk, vielleicht gar als Opfer, wie genau ihnen hier die Alternative eines Lebensentwurfes vorgespielt wurde. Alle zusammen dankten mit herzlichem, wohlwollenden Applaus.

Quelle: Main-Spitze